Gastbeitrag von Simone Harre
Vor vielen Jahren fragten mich einmal in Europa auf Kundentour gehende thailändische Schneider aus Bangkok, was ich von Beruf mache. Ich erklärte ihnen, dass ich Autorin sei, Menschen portraitiere und sie nach dem Glück frage. Die Schneider, an mir gerade Maß nehmend, zeigten sich beeindruckt und wollten wissen, was die Menschen in Deutschland also glücklich mache.
Ich sagte, das habe vor allen Dingen viel mit Selbstverwirklichung zu tun, niemals aber mit Geld, denn ganz klar, die Deutschen wüssten, das Geld ein Irrläufer des Glücks sei. Ich unterstrich diese Aussage wohl sehr überzeugt, meiner Interviewpartner und meiner selbst gewiss. Die Schneider indes legten ihr Maßband beiseite und schauten mich erstaunt, eher unwillig und schließlich fast böse an. „So ein Unsinn“, sagten sie. Beeindruckt waren sie nicht mehr. Diese Begegnung in einem deutschen Hotelzimmer habe ich nie vergessen. Zwei Kulturen trafen aufeinander, freundlich, doch im Grunde unvereinbar. Sie schüttelten über mich den Kopf und ich bedauerte sie meinerseits, übersah dabei, dass ich sie mit dieser Haltung geradezu gekränkt haben musste. Denn wie ehrgeizig, leidenschaftlich, fleißig, möglicherweise entbehrungsreich muss ein Schneider in Bangkok gewesen sein, um den Weg nach Deutschland vollbringen zu können?
Chinesische Millionärskinder von Bauern und Arbeitern
Diese Begegnung ist auch deshalb so für sich sprechend, weil sie zeigt, dass Glück nicht einfach nur unterschiedlich bewertet werden kann, sich je nach Kultur natürlicherweise anders ausformt, sondern maßgeblich von der sozialen Gegenwart eines Landes geprägt ist, doch wir genau diesen Umstand oft genug ausblenden und stattdessen einen Maßstab anlegen, der mit einer großen Arroganz verbunden ist und unser Gegenüber in einem verzerrten Licht dastehen lässt. Unter allen asiatischen Ländern steht dabei China nicht nur in besonders verzerrtem Licht, sondern im Fokus der starken Kritik. Das intellektuelle Naserümpfen ist fast schick und gleichzeitig bar wirklicher Landeskenntnis. China ist wie die thailändischen Schneider ein Land mit großer Kraft, ein Land, das seine Stärke nur entfesseln konnte, weil seine Menschen zum Zwecke des großen Ganzen schon immer zäh und selbstlos waren und außerdem von einer Vaterlandsliebe geleitet sind, die jenseits politischer Kritik steht. Das mag man gut oder schlecht finden. Respektabel ist es allemal. Doch so wenig wie wir des Nachbarn schickes Auto anerkennen können, können wir diese fremde, neue starke Kraft loben. Wir sehen sie noch nicht einmal als solche an. Wir sehen noch weniger, dass Chinas Millionäre und Milliardäre, bevor sie sich möglicherweise bräsig auf einem schwarzen Kunstledersessel unter Neonlicht lümmeln, allesamt Kinder von Bauern oder Arbeiter waren und zumeist in bitterer Not aufgewachsen sind. Kein Leben, in dem man Wünsche äußerte oder nach Selbstverwirklichung hätte suchen können, noch mit einem Schöngeist in Berührung gewesen wäre.
Glück in drei Teilen: Ackerland, Mund, Karriere
Fließendes Wasser mag für uns schon lange etwas Normales sein. In China ist es mancherorts noch wie flüssiges Geld. Einen Lebensstandard zu erreichen, geht nur über Fleiß und schließlich Geld. Geld ist also Glück. Auch in China. Die Basis mindestens. Das finden die meisten. Natürlich neben der Gesundheit. Und die ganze Sache ist etwas vertrackt. Ein Professor der Karthographie in Chengdu sagte zu mir: „Das, was die anderen haben, wollen wir auch haben. Nur leider sind wir zu schnell gewachsen.“ Der Eifer nach oben zu kommen, hat vieles zerstört. Vor allem die Natur. Die bloße soziale Absicherung eines Lebens ist weiterhin sehr wichtig und führt noch heute zu vielen arrangierten Ehen jenseits persönlicher Neigung. Und auch die gänzliche Nivellierung des Ichs, das durch Mao angeordnete Einheitsgrau in Geist und Kleidung ist in den Herzen der Menschen nicht ganz verschwunden, konnte es sich doch gut mit den konfuzianischen Lehren vereinen.
Die Frage nach dem Glück, in der Tat, fällt in China wie bei den thailändischen Schneidern mit der Erwähnung von Geld aus. Noch. Das ist allerdings gar nicht so verwunderlich, bedenkt man, dass diese Sichtweise bereits im Schriftzeichen für Glück angelegt ist, denn dieses besteht aus drei Teilen: Ackerland, Mund, Karriere. Erst satt werden, dann weiterschauen. Insgesamt scheint mir das materiell orientierte Leben der Chinesen, dass allmählich eine neue Ausgangsbasis erklimmt dennoch eher pragmatischer denn kapitalistischer Natur zu sein. Ein Überlebensgeist. Der Staat ist kein Sozialstaat. Nur in der Familie findet sich ein Sicherheitsnetz. Man hat erzwungener Maßen immer einen selbstverantwortlichen Blick auf das, was man sich leisten kann und was nicht. Die Entscheidung etwa für ein zweites Kind ist daher auch nach neuster Regelung seitens der Regierung nicht die Frucht eines Gebotes, sondern die des Kontostandes. Auch die nachwachsende und schon sehr im Konsum verankerte Jugend hat es nicht besser. Auf ihr lastet als Einzelkind ein enormer Leistungs- und Erfolgsdruck. Der beginnt in der Schule, ganztags, am Wochenende, geht nahtlos und ohne soziales Jahr, das Seele und Geist reifen ließe, mit Glück in ein Studium über und mit noch mehr Glück in ein Auslandssemester, falls es zahlungskräftige Eltern oder aber ein Stipendium gibt. Es folgt ein zumeist früher Berufseinstieg, Heirat, Kinder und … niemals Pause, kongenial dazu jedoch eine zunehmend große Sehnsucht nach Ruhe, Natur, einem Eremitendasein, nach buddhistischen Sutren oder gehäuften Sonnenuntergängen und praktisch jeder hat zu Hause ein Tischchen fürs chinesische Teezeremoniell. So erlebe ich es in den Gesprächen mit den jüngeren Chinesen. Glück? Selbstfindung? Wann? Und was ist das? Eine starke Rückläufigkeit zu Chinas alter Kultur ist in den letzten Jahren jedoch zu verzeichnen, ebenso eine zahlreiche Hinwendung zur christlichen Religion, aber auch zu Mao. Etwas zum Festhalten. Etwas Sinnstiftendes jenseits von Geld und Leistung. Auch jenseits der übergeordneten Führung, der Partei.
Glück, so ist das wohl, ist eine Luxusfrage
Das Ich in deutschem Sinn findet sich frühestens mit Anfang fünfzig. Und auch nur bei denen, die super strebsam, darum irgendwann supererfolgreich und schließlich superreich wurden und sich einen finanziellen Speck für die Zukunft ranarbeiten konnten. Dann sagen diese Leute: „Jetzt beginnt mein Glücksleben.“ Gehen in Frührente und halten endlich an. Beginnen nachzudenken, zu fühlen. Wenn sie es denn vermögen. Leider ist das Ich bis dahin oft sehr zerschlissen und die Dinge, die einen persönlich glücklich machen können … klingen oft wieder kollektiv gleich. „Yoga machen. Auf Reisen gehen!“
Der Professor für Karthographie, er ist Anfang fünfzig, ist in dieser Hinsicht eine chinesische Begegnung, die für mich so stellvertretend prägend war wie die thailändischen Schneider. Er zitterte von Anbeginn des Gespräches wie Espenlaub. Seine Hände waren schweißnass. Seine Stimme nervös. Und gefragt nach seinen Träumen, persönlichen Wünschen, nach der Vorstellung eines perfekten Lebens und auch nur in der Phantasie, geriet er vollends in heftiges Stottern. In Panik geradezu. Die Worte, sie wollten nicht über seine Lippen. „Es geht nicht. Es ist nicht real.“ War schließlich das Einzige, das er wiederholt herausstoßen konnte. Und diesmal war es nicht westliche Selbstgewissheit in mir, die ihm zuhörte, diesmal war es Scham. Es tat mir unendlich leid zu sehen, dass sich dieser Mann in dieser für ihn so misslichen Lage befand. Dabei war er bei weitem nicht der einzige, der meiner Frage nicht begegnen konnte, nur eben der dramatischste. Alle Chinesen indes waren sich zunächst einig, dass die Frage nach dem Glück sehr wichtig sei. Dass man darüber sprechen müsse. Aber sie zu beantworten war über allgemeine Floskeln hinaus sehr schwierig. Glück, so ist das wohl, ist eine Luxusfrage auf sozial entspanntem Niveau oder einer dem Einzelnen zugewandten Gesellschaft. Mein Dolmetscher sagte einmal: „Wir Kinder waren einfach nur da. Man nahm uns nicht in den Arm. Außer wir waren krank. Wir waren gerne krank.“ Dieses kollektiv zurückgedrängte Ich, historisch seit Jahrtausenden trainiert, hat keinen rechten Resonanzboden für private Emotion, doch darum eine umso mächtigere Kraft entfesseln können. Für Chinesen, welche umgekehrt die sehr ichversessene deutsche Gesellschaft erleben, kann dies darum zunächst sehr irritierend sein. Eine chinesische Dame, die seit Jahren in Deutschland lebt und deutsche Klassiker ins Chinesische übersetzt, sagte, die freundliche deutsche Frage „Wie geht es dir?“ habe sie lange in Verlegenheit gebracht. „Wieso will jemand wissen, was ich fühle? Und was soll man dann antworten, wenn man dies noch nie gefragt wurde?“
Zufriedenheit jenseits des chinesischen Business
Da das deutsche Leben und das deutsche Sozialsystem für viele aber längst auch kein Honigschlecken mehr ist, rückt in Deutschland das Thema Geld als Grundausstattung eines zufriedenen Lebens doch wieder zunehmend auf den Glücksplan. Auch in meinen Interviews. Wenngleich sehr verschämt. Andersherum schauen natürlich längst nicht alle Chinesen auf das liebe Geld. Gerade in Südwestchina habe ich eine große Zufriedenheit jenseits des chinesischen Business erlebt. Und auch reiche Chinesen haben durchaus schon mal Ideale außerhalb des pragmatischen Gelderwerbs. Manchmal auch sagen sie etwas sehr Schönes wie zuletzt ein Mann, der Hirsewein nach traditionellem Verfahren herstellt: „Ich mag alles an mir. Wenn ich morgens mein Gesicht wasche, sage ich zwei Mal: Das Wasser ist schön.“ Auf die Frage, ob er reich sei, lacht er und nennt sich scherzhaft einen „Minusmillionär“. Er hat eine Fabrik, die Meerestiere verarbeitet. Die bringt ihm das Geld und die Möglichkeit, den von ihm so geschätzten Hirsewein als Nonprofitunternehmen herzustellen. Warum ein Unternehmen ohne Kapital führen? „Weil mich das glücklich macht“, sagt er und wackelt fröhlich mit seinen Ohren.
Geld und Glück, ich möchte es nicht als Wert herausstellen, und ich wünschte Geld wäre nicht Glück. Aber es ist naiv anzunehmen, die Abwesenheit von Geld im Umkehrschluss würde uns auf dieser Erdkugel, wie sie ist, zu uns selbst führen können. Von den Chinesen können wir so gesehen lernen, dass man auch verspielt und stolz mit Geld umgehen kann. Vor allen Dingen, dass man Verantwortung für den Ertrag seines Lebens hat, statt diese in Teilen an einen Staat abzugeben. Und die Chinesen können von uns vielleicht lernen, diesem Vorgehen einen Wert beizumessen, überhaupt der Wertschätzung des Einzelnen einen Wert beizumessen und auch dort Menschen zu unterstützten, außerhalb der eigenen Familie, wo in Deutschland der Staat hilft. Vielleicht verändert sich auf diese Weise irgendwann die Tatsache, dass auch Geld Glück ist.
©️ http://china-blog.simone-harre.de/
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R.B. meint
Sehr guter Beitrag – man muss sich den Luxus, auf Geld verzichten zu können / wollen, auch erst einmal finanziell erarbeitet haben…
Michael Buchmann meint
Danke Frau Harre, für Ihren mich nachdenklich machenden Beitrag!
Volker Müller meint
Die Widersprüchlichkeit eines Schwellenlandes.
Wie soll man mit 1/5 des pro-Kopf Bruttosozialproduktes von Deutschland eine medizinische Versorgung wie in Mitteleuropa finanzieren? Das fehlt es natürlich vorne und hinten. Ärzte in China sind keine glücklichen Menschen.
Und dann wieder, was für ein Glücksgefühl, eine Tasse guten Tee zu trinken, die NICHT mit Leitungswasser aufgebrüht wurde, sondern mit Wasser aus dem Brunnen aus einem ganz normalen chinesischen Bauernhof. Ein Geschmack, den ich nie vergessen werden. Ein Beispiel, wieviel einfaches Glück uns auf dem Weg zum Wohlstand verloren gegangen ist.